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Buchrezension: „Der Philosophenstreit“ von Karam Khella

Last updated on 26/09/2024

„Der Philosophenstreit“ von Karam Khella bietet einen gelungenen Einstieg in die islamische Philosophie und beleuchtet die Auseinandersetzungen zwischen den bedeutenden Denkern Ibn Sina (Avicenna), al-Ghazali und Ibn Rushd (Averroes). Die gut strukturierte Darstellung macht die komplexen Diskussionen zwischen diesen Denkern auch für weniger erfahrene Leser verständlich.

Ein markanter Punkt des Buches ist die detaillierte Darstellung von al-Ghazali. Seine Kritik an der Philosophie wird mit großem Respekt behandelt, besonders seine Angriffe auf Ibn Sina. Anfangs könnte man meinen, dass der Autor al-Ghazalis Position als überlegen ansieht. Doch im weiteren Verlauf des Buches zeichnet sich ein anderes Bild ab. Khella lässt durchblicken, dass Ibn Rushd, der die Philosophie gegen al-Ghazalis Kritik verteidigt und versucht, Vernunft und Offenbarung zu vereinen, langfristig als der einflussreichere Denker gilt.

Ibn Sina, der als Universalgelehrter nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Medizin und anderen Wissenschaften wirkte, griff auch theologische Themen auf und deutete sie aus seiner philosophischen Perspektive. Der Konflikt1 mit al-Ghazali konzentriert sich dabei auf zentrale Fragen der islamischen Philosophie und Theologie. Im Buch von al-Ghazali werden 20 philosophische Punkte aufgegriffen, die Ibn Sinas Denken kritisieren. Im Folgenden werden einige zentrale Themen des Streits aufgezählt:

  1. Qidam al-‘Alam: Ibn Sina vertritt die These der Unanfänglichkeit der Welt, also dass die Materie weder einen Anfang noch ein Ende hat und nicht erschaffen wurde. Dies stellt einen Gegensatz zur Auffassung der Schöpfung aus dem Nichts dar. Ibn Sina gilt damit als Begründer des philosophischen Materialismus in der Philosophie.
  2. Göttliches Wissen (Kulliyyat vs. guz’iyyat): Nach Ibn Sina kann Gott nur universale Dinge wissen, jedoch keine Einzelheiten. Diese These bedeutet, dass Gott zwar die allgemeinen Strukturen der Welt kennt, aber nicht in die Details des individuellen Lebens eingreift. Damit stellt Ibn Sina Gottes Allwissenheit infrage.
  3. Gebet: Aus der obigen These des göttlichen Wissens folgt für Ibn Sina auch eine problematische Haltung zum Gebet. „Der Mensch betet in der Hoffnung: Gott erfülle das Gebet. Das heißt, Gott würde etwas tun, was Er nicht getan hätte, wenn nicht gebetet wäre: Die Erfüllung eines Gebetes heißt, Gott verändere sich. Ibn-Sina: Gott verändere sich nicht. Gott ist unveränderlich.“(Zitat S.23)
  4. Emanationstheorie: Ibn Sina glaubt, dass alle Dinge nach und nach aus dem vollkommenen und unveränderlichen göttlichen Einen entstehen. Diese Idee widerspricht dem Glauben, dass die Welt direkt aus dem Nichts geschaffen wurde.
  5. Theodizee (Das Böse in der Welt): In der Frage des Bösen herrscht weitgehend Konsens zwischen Ibn Sina und al-Ghazali: Gott ist nicht verantwortlich für das Böse in der Welt.
  6. Eschatologie (Der jüngste Tag): Ibn Sina verwirft den Glauben an eine fleischliche Auferstehung der Toten.
  7. Vorbestimmung (Qada wa Qadar): Ibn Sina lehnt die Idee einer göttlichen Vorbestimmung ab. Für ihn wäre dies eine Ungerechtigkeit, da der Mensch dann keine echte Verantwortung für seine Taten tragen könnte.

Obwohl der Konflikt zwischen diesen drei Denkern im Buch eingehend behandelt wird, bleibt offen, ob es tatsächlich einen „Gewinner“ gibt. Khella zeigt auf, dass der Streit zwischen Vernunft und Glaube bis heute in verschiedenen philosophischen Traditionen weiterlebt. Jeder Leser kann für sich selbst entscheiden, welche Perspektive er bevorzugt.

Das Buch weckt zudem das Interesse, sich intensiver mit philosophischer Logik zu beschäftigen. Die sorgfältige Darstellung der Argumentationsstrukturen motiviert dazu, tiefer in das formale Denken der Philosophen einzutauchen.

Fazit: „Der Philosophenstreit“ ist eine bereichernde Einführung in die islamische Philosophie. Khella schafft es, die komplexen Gedanken der drei großen Denker verständlich darzustellen und verleiht dem Buch durch den Übergang vom Fokus auf al-Ghazali zu Ibn Rushd eine spannende Wendung. Leser, die sich für das Zusammenspiel von Vernunft und Glauben interessieren, finden in diesem Werk eine informative und anregende Lektüre.

  1. Man sollte berücksichtigen, dass all diese großen Denker nicht zur gleichen Zeit lebten, sondern mehrere Jahrzehnte zwischen ihnen lagen. Daher ist der Begriff ‚Konflikt‘ möglicherweise unglücklich gewählt, aber bewusst verwendet. ↩︎

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